#Wenn Jugendliche scheitern

Für Jugendliche ist es schwer, sich Hilfe zu suchen.

Junge Menschen sind im Verlauf ihrer Entwicklung wachsenden Anforderungen, zunehmendem Druck und vielfältigen Entwicklungsaufgaben ausgesetzt. Sie müssen die Veränderungen des eigenen Körpers akzeptieren, sich in verschiedenen Rollen zurechtfinden, eigene Zukunftsaussichten beruflich wie auch privat entwickeln, Freundschaften und Beziehungen gestalten und eine eigene Persönlichkeit entfalten (vgl. OERTER, DREHER, S. 279). Scheitern sie an der Bewältigung dieser Aufgaben, kann dies zu einer lebensbedrohlichen Gefahr werden, insbesondere wenn noch kritische Lebensereignisse eintreten, wie zum Beispiel ein Umzug oder die Trennung der Eltern, aber auch alltägliche Probleme wie Streit in der Familie oder Mobbing, kann es zu einer Kaskade von Überforderungen kommen.

Natürlich gibt es gewisse Schutzfaktoren, die hier entgegenwirken können.

Persönliche Ressourcen wie Empathie und die Fähigkeit zur Perspektivübernahme, Selbstwirksamkeit und Optimismus, oder auch Selbstkontrolle sowie der Selbstwert und nicht zuletzt ein Gefühl von Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens spielen eine große Rolle, wenn es um die Stabilität in Lebenskrisen geht. Die Umgebungsressourcen, wie die elterliche, soziale und emotionale Unterstützung, eine autoritative Erziehung, die Integration in eine Peergruppe und die schulische bzw. berufliche Integration haben positiven Einfluss auf das Stresserleben (vgl. LOHAUS). Diese Schutzfaktoren sind individuell sehr verschieden ausgeprägt. Fallen sie aufgrund äußerer oder innerer Einflüsse plötzlich weg, fällt der oder die Jugendliche schnell ins Bodenlose.

Anna

ist eine hübsche junge Frau mit attraktivem Körper. Sie hat gute Noten in der Schule und immer Freundinnen und Freunde um sich herum. Ein strahlendes Lächeln und stets gute Laune lassen mutmaßen, dass sie glücklich ist. Letzte Woche hat Anna versucht ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie hatte viel Alkohol getrunken und dann einen Tablettencocktail geschluckt, der sie beinahe umgebracht hätte, wäre sie nicht durch einen Zufall rechtzeitig gefunden worden. Ihr Umfeld ist geschockt, wie konnte es dazu kommen?

Annas Hintergründe

Anna hat sich stets von ihren Eltern unterstützt und gestärkt gefühlt, wann immer sie ihre Eltern brauchte, konnte sie sich auf sie verlassen. Seit ein paar Wochen leben Annas Eltern in Trennung und sind stark mit ihren eigenen Gedanken und Gefühlen beschäftigt. (Wegfall eines Schutzfaktors) Seit Anfang des Jahres macht Annas Körper rasante Entwicklungsschritte, ihre Brüste wachsen stark, mehr als bei den anderen Mädchen in ihrer Klasse. Ihr ist das unangenehm und sie versucht ihre Brüste unter Sport-BHs zu verstecken. (Nichtbewältigung einer Entwicklungsaufgabe) Anna hat das Gefühl ihre Freundinnen seien neidisch auf ihren Körper. Seither zieht sie sich aus ihren Freundschaften zurück. (Nichtbewältigung einer Entwicklungsaufgabe #Wegfall eines weiteren Schutzfaktors) Vor zwei Jahren hat sich Anna in Leo verliebt, seither sind sie ein Paar, besser: waren. Denn vor zwei Wochen hat Leo, der Annas erster Freund war, sich von Anna getrennt. (Krise – fehlende Bewältigungsressourcen, da erste Trennung – Wegfall eines Schutzfaktors – Zusammenbruch des eigenen Zukunftsentwurfes). Als Anna zunehmend von dem Gefühl übermannt wird (Emotionszentrale überfordert), ihr Leben mache keinen Sinn mehr, teilt sie sich ihrer Klassenlehrerin mit. Als diese ihr gar nicht richtig zuhört und ihr nur auf die Schnelle antwortet: „Der erste Liebeskummer ist hart, aber so hübsch wie Du bist, wirst du schnell eine neue Liebe finden“, fühlt sich Anna von niemandem verstanden und ganz plötzlich völlig allein auf der Welt! Um dieses übermächtige Gefühl zu betäuben, betrinkt sie sich. Im Rausch kann sie ihren Suizidfantasien nichts mehr entgegensetzen (Organisationsraum überfordert) und entscheidet sich ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Für Jugendliche ist es eine enorme Herausforderung, sich Hilfe zu suchen.

Für das Hilfesystem besteht daher die Verantwortung, niedrigschwellig und zeitnah Hilfe in den Formen anzubieten, die die Jugendlichen auch tatsächlich wahrnehmen, weil sie in ihrer Lebenswelt Platz finden und kann dazu beitragen, dass eine Zuspitzung, wie sie beispielsweise bei Anna geschehen ist, verlangsamt wird. Dies ermöglicht häufig die Eröffnung neuer Handlungsspielräume und Hilfsmöglichkeiten, die bei der Bewältigung der Krise unterstützend wirken können.

Autorin des Artikels
Daniela Frattollino – Diplom Pädagogin und zertifizierte Online-Beraterin


Literatur

Erschienen in:

24-7-telefonseelsorge.de – Ausgabe- 5 Dezember 2021